Rakjeta und wilde Töchter

Nachdem gegen 4 Uhr morgens die letzten Stimmen auf der Straße verhallten, wurden wir gegen 8 vom Soundcheck der Hardrockband, die offensichtlich am Sonntag im Café gegenüber auftritt, geweckt. Wir überlegten uns, wie wir zu unserer nächsten Reisestatio Listwjanka direkt an den Baikalsee kommen könnten. Alina von der Hotelrezeption versicherte uns, daß wir am bequemsten das Taxi nehmen – wir aber wollten mit dem ÖV und dann über den Baikalsee fahren. Nach ein paar Telefonaten (offensichtlich hatten wir wieder Sonderwünsche, die nicht so häufig vorkommen ☺️) und diversen Internetrecherchen von Alina, präsentierte sie uns einen Plan: an einer Bushaltestelle würde immer wieder ein Minibus 16k in Richtung „Rakjeta“ fahren, dann umsteigen (wohin auch immer) und dann 800 Meter zu Fuß zum Hafen laufen. Sie zeigte uns den ungefähren Weg des Minibusses auf einer rudimentären Karte und wir ließen uns auf dieses Abenteuer ein. Da die Busstationen nur selten mit Namen beschriftet sind, warteten wir an der nächsten Bushaltestelle mit all unserem Gepäck. Den ersten Minibus mit der Nummer 16k sahen wir schon von weitem. Der Fahrer sah uns wahrscheinlich auch und brauste auf der dritten Innenspur an uns vorbei. OK. Solche Situationen haben wir schon in anderen Ländern gemeistert: Also Zeichen setzen und Hand raus. Nur wie? Wir waren nicht sicher, welche Bedeutung hier in Russland der „Daumen hoch“ hat. So entschied ich mich (Conny) für das internationale Zeichen für „Stopp“! Nach ein paar Minuten konnte ich so den nächsten Minibus anhalten. Geschafft. Nun saßen wir zusammengedrückt mit anderen Passagieren im Kleinbus und fragten uns, was wir tun müssten, um a) auszusteigen und b) ein Ticket zu lösen. Also: Beobachten. Der Fahrer murmelte zwischendrin immer mal wieder etwas, das wie die Straßennamen klang und je nachdem, antworteten die anderen Mitfahrenden mit Kopfschütteln oder „Da“ für ja. Beim Aussteigen drückten sie dem Chauffeur ein wenig Kleingeld in die Hand und so ging es weiter. Der Minibus nahm nicht die gleiche Route, wie Alina sie uns aufgezeichnet hatte und so entschieden wir, „ungefähr in der Nähe“ des Hafens auszusteigen. Mit dem ganzen Gepäck. Ich verhandelte mit dem Fahrer noch den Fahrpreis – keine Ahnung, wo wir eingestiegen waren, wieviele Stationen verrechnet werden, geschweige denn, was es kostet. Ich gab 50 Rubel (ungefähr 0.70 CHF) und bekam noch 2 Rubel zurück. Na so kann es weitergehen😉. Mit unserer ungenauen Karte machten wir uns inmitten eines Wohngebietes auf den Weg. Richtungsmässig wußten wir schon, wo wir hinwollten, aber da waren riesige Straßen dazwischen, die teilweise eingezäunt waren und die wir mit unserem Gepäck nicht überqueren konnten. So liefen wir einen Hügel hinauf, um dort einen Herrn nach dem Weg zu fragen. Nach seinem entsetzten Gesicht auf meine englische Ansprache, versuchte ich es auf Russisch und siehe da, „Rakjeta“ wurde verstanden und wir waren auch nicht mehr weit entfernt … Nur noch einmal rechts abbiegen und dann immer gerade aus und dann wieder links …. Nach einer Viertelstunde standen wir am Hafen des Raketen-Bootes. Nächste Herausforderung: wie und wo bekommen wir ein Ticket für das Boot? Mutiger geworden durch meinen Erfolg von vorhin, verlangte ich am Schalter 2 Tickets für das Raketenboot nach Listvjanka. In der Aufregung vergaß ich zu sagen, für welchen Tag und wann. Aber die zwar mürrisch drein schauende junge Dame half mir mit kurzen Fragen und ich antwortete brav. So hatte ich auch dies geschafft! Ich war mächtig stolz auf mich, denn so ganz allmählich verdrängen die russischen Vokabeln die englischen …

Im Boot hatten wir Sitze wie im Flugzeug (nur anschnallen mußten wir uns nicht) und ein bisschen war es dann auch wie Fliegen … Über das Wasser. Als alle Passagiere ihre Sitzplätze gefunden hatten – natürlich waren die Sitzplätze wie im Flieger nummeriert – und das Boot langsam in den Stausee der Angara auslief, gab es selbstverständlich von der Stewardess die obligatorischen Sicherheitshinweise. Wo befinden sich die Notausgänge und wie legt man richtig die Rettungsweste inklusive der Trillerpfeife an! Anders als im Flugzeug griff sich die resolute Stewardess allerdings einen der verdutzt schauenden Passagiere und dieser musste nach der erfolgten Instruktion die Weste anlegen.

„Rakjeta“ ist ein stromlinienförmiges Tragflächen-Boot das auf Tragflügeln mit hoher Geschwindigkeit über das Wasser förmlich fliegt. Im Hafen lag das Boot noch schlank und schmal tief im Wasser und wir stiegen über eine Öffnung im Dach in das Boot hinunter. Noch langsam schwimmt die Rakete aus dem Hafenbecken, aber die recht lauten Maschinengeräusche deuten bereits an, was da gleich zur Entfaltung kommt. Mit zunehmender Geschindigkeit hebt sich der Rumpf aus dem Wasser, die Gischt spritzt gegen die Scheiben und das Boot fliegt geneigt über das Wasser. Durch die Einstiegslucke kann man den Kopf nach aussen stecken und den strengen Fahrtwind am ganzen Körper spüren.

Die Angara ist der einzige mächtige Abfluss unseres zieles, des Baikal-See, wobei die Russen aus treffender als ein Meer bezeichnen. Der See kann mit einigen Superlativen aufwarten, wie zum Beispiel: der tiefste See der Erde (1637m an der tiefsten Stelle), 20% der weltweiten Reserven an Süsswasser lagern hier, jede Menge Tiere ringsum und mittendrin die es zu 2/3 nur hier auf Erden gibt (z.B. die knuffige Baikal Robbe) und ringsherum nicht viel mehr als sibirische Einsamkeit mit Tundra und Taiga.

Aber zurück zur Angara – einen der Gründe, warum ich (Jörg) unbedingt hier einen Zwischenstopp machen wollte. Als Leseanfänger 😉 las ich mit Begeisterung immer wieder ein sehr sozialistisches Kinderbuch, von der schönen Angara, dem Prinzen Jenissei und dem mächtigen Vater der Angara, Baikal. Die Sage erzählt, das der alte Baikal eine einzige Tochter hatte, natürlich wunderschön, ist ja eine Sage. Diese verliebte sich unsterblich in den ebenfalls schönen Jenissei, wogegen der Vater aus mir nicht mehr bekannten Gründen irgendetwas hatte. Wie Töchter so sein können – eigener Kopf und nicht auf den es nur gut meinenden Vater hören wollend – floh eines Nachts die schöne Angara zu ihrem Jenissei. Das erboste den Vater Baikal so sehr, dass er voller Wut einen Felsen nach ihr warf. Dieser ragt immer noch bei Listwjanka, da wo wir nun sind, aus dem Wasser.  Aber die Angara  erreichte ihren Jenissei und seitdem fliessen sie zusammen durch Sibirien bis ins kalte Nordmeer. Aber nur so etwas kann natürlich nicht in einem sozialistischen Kinderbuch allein stehen bleiben. Natürlich gab es eine Rahmenhandlung vom neuen sowjetischen Bürger, der die wilde Angara bezwungen hatte – dies sieht man heute noch. Eines der grössten Wasserkraftwerke durchschneidet am Rande von Irkutsk seit den 50ziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Angara, staut das Wasser in einem 60km langen Stausee an und erzeugt massenhaft Strom für die rasant gewachsene Stadt, die Transsib und die umliegende Industrie. Leider habe ich das Buch nicht mehr, sollte sich einer unserer ostdeutschen Leser an dieses Buch erinnern und es auf dem Dachboden noch haben … Ich melde hiermit offizielles Interesse an.

Unser Boot nach Listwjanka fliegt vorbei an grünen, sonnenbeleuchteten Waldhängen über glitzerndes Wasser. Der richtige Weg um in unser kleines sibirisches Dorf für die nächsten 4 Tage zu kommen!

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