Sehr zeitig starteten wir von unserem Hotel am Ufer des Tanasees. Der Schlaf war bedingt durch die späte Ankunft am Abend zuvor und dem lauten Singsang in der Nacht sehr kurz. Alazar klärte uns auf, dass dieser Tag ein wichtiger orthodoxer Feiertag sei. Aufgrund der vielfältigen orthodoxen Feiertage in Äthiopien – quasi jeder Tag des Jahres ist ein Feiertag für einen Heiligen oder Engel oder ein besonderes Ereignis im alten und neuen Testament – habe ich etwas den Überblick verloren. Jedenfalls beteten die Priester die gesamte Nacht und beschallten mittels Lautsprechern die gesamte Stadt. In Teheran war es Nachts ruhiger 😉 …
Wir fuhren mit der aufgehenden Sonne durch die modern angelegte Stadt. Am Abzweig zur Pistenstrecke zum 30 Kilometer entfernten Nilfall stoppte Alazar kurz und fragte den Fahrer eines der uns entgegen kommenden Minibusse ob die Lage in diesem Gebiet friedlich wäre – was der Fahrer bestätigte. Auf der Weiterfahrt erklärte uns Alazar den Grund seiner Frage. Dieses Gebiet war einer der Schwerpunkte des Aufstandes vor 4 Wochen mit bis zu 700 Toten. Die hier lebenden Farmer sind sehr unzufrieden mit den Landverkäufen der Regierung an ausländische Investoren aus Indien und Saudi Arabien. Dummerweise sind die Farmer bewaffnet und nutzen ihre Kalaschnikows für Imponiergehabe am Abend in der Kneipe oder um blutige Fehden auszutragen. Die Regierung sagte, die Toten hätte es bei einer Massenpanik gegeben – die Leute vor Ort erzählten, die Soldaten (natürlich aus weit entfernten Regionen) schossen wahllos auf Kinder, Frauen und Männer. Uns stockt der Atem und es bedrückte uns sehr. Die sehr aggressive Stimmung wurde auch für uns sofort spürbar als uns, eine riesige Staubwolke hinter sich herziehend, eine aus mehreren Jeeps bestehende Militär Patrouille entgegen gerast kam. Die Fahrer nahmen keine Rücksicht auf die Menschen am Strassenrand. Mitten auf der Piste unterwegs mussten alle ausweichen. Die Jeeps waren mit schwer bewaffneten Elitesoldaten besetzt, auf das Dach der Fahrerkabine ein schweres Maschinengewehr montiert, welches von Typen mit dunklen Sonnenbrillen einsatzbereit besetzt war. Wenn in einem Hollywood Film klischeehaft eine afrikanische Diktatur dargestellt wird, dann genauso – bloß daß es hier keine Filmproduktion war.
Mit einem etwas flauen Magen stiegen wir in der Siedlung Tis Abay aus unserem Wagen und begannen mit unserem örtlichen Führer unsere Wanderung zum und um den Nilfall herum. Der blaue Nil ist der Abfluss des Tanasees, welcher wiederum von Zuflüssen aus dem umliegenden Bergland gespeisst wird. Die Ausblicke auf den tosend nieder stürzenden Nil waren Belohnung für den frühen Start. Ein Regenbogen schimmerte und die Feuchtigkeit ersetzte die fehlende morgendliche Dusche perfekt. Nachdem wir den breiten Nilfall umrundet hatten und über eine Schweizer Hängebrücke eine kleine, aber tiefe Schlucht überquert hatten, wanderten wir durch Farmland bis zum Ufer des blauen Nils. Eine seichte Stelle diente als Anlegestelle für ein kleines Boot, dass uns auf die andere Seite des vermutlich längsten Flusses der Erde brachte. Ein friedlicher Morgen … Aber das zuvor Gehörte hallt noch nach und wird uns wohl den Rest der Reise begleiten.
Auf der Fahrt zurück nach Bahar Dar sahen wir eine riesige Gewächshausanlage. Dort werden Blumen für den Export, z.B. nach Europa gezüchtet. Auf ehemaligem kleinteilig landwirtschaftlich genutztem Land. Später wird uns einer unserer Guides seine Sicht auf die Dinge erklären. Am Ortseingang zu Bahar Dar sind dann wir diejenigen, die nach der Sicherheitslage in Tis Abay von den Fahrern der anderen Touristenbusse befragt werden. Die eingeholte Information bei unserer Beraterin bei Diamir Reisen vor unserer Reise, dass wir von den Unruhen im Land gar nichts mitbekommen würden, empfand ich da als naiv.
Den restlichen Vormittag nutzten wir für eine Bootsfahrt auf dem Tanasee zu einer Halbinsel mit einem historischen Kirchenkomplex mit wunderbar bunter, fast ikonischer Malerei. Die gesamte Rundkirche ist im Inneren mit Szenen aus dem alten Testament und speziellen äthiopisch orthodoxen Büchern ausgeschmückt. Unser junger Guide ist äusserst gut informiert und studiert Theologie. Interessanterweise erzählte er uns, dass sich viele der historischen Gez Texte in europäischen Instituten, z.B. in Deutschland oder dem Vatikan befinden und für ihn somit nicht zugänglich wären. Gern möchte er in Berlin sein Studium fortsetzen und büffelt dafür im Selbststudium Deutsch.
Auf der Fahrt mit dem Boot zurück nach Bahar Dar fragten wir vermutlich viel zu direkt nach seiner Sicht auf die Ereignisse Anfang Oktober. Er antwortet erst zögerlich und grundsätzlich sehr vorsichtig. Er sieht die Ursachen für den Konflikt auf beiden Seiten. Die Regierung treibt die wirtschaftliche Entwicklung mit Härte (das chinesische Modell) voran und informiert die Bevölkerung zu wenig. Die Farmer wollen ihr traditionelles Leben fortsetzen und das anbauen, was sie benötigen und den kleinen Überschuss auf dem Markt verkaufen. Was fehlt ist Ausbildung, Schule und Berufsausbildung … aber auch diese Medallie hat zwei Seiten. Die Regierung oder private Organisationen bieten zuwenig oder ungenügende Ausbildung an und die Farmer sehen nicht ein, warum sie ihre Kinder in die Schule schicken sollen, wenn diese doch auf dem Feld helfen können. Unser Guide erzählte uns von der Dummheit der aufgebrachten Menge. Die Leute zündeten aus Hass auf die Regierung Krankenwagen an … Krankenwagen, die schwangere Frauen ins Krankenhaus bringen wollten. Schwer für uns, alles richtig einzuordnen und zu bewerten.
Für unsere nachmittägliche Fahrt nach Gondar stärkten wir uns mit köstlichem kunsprig frittierten Fisch frisch aus dem Tanasee. Beim Buna-Kaffee Stopp organisierten wir uns hundert Gramm Kat (Tschat sagte man hier) und stopften uns die Backen voll mit den grünen Blättern der anregend wirkenden Pflanze. Das Zutschen des Pflanzensafts machte uns gesprächiger und lustiger.