Schwebende Metallsärge

Erst geht es nicht los. Niemand steigt in das schaukelnde Gefährt. Der junge Mann diskutiert mit seinem Walkie Talkie in georgisch für uns unverständlich mit jemanden am anderen Ende des Seils. Dann doch so etwas wie Aufbruch. Beherzt über die Betonkante in die schwankende Metallbox springen und noch bevor die Tür geschlossen wird … von Hand, nicht wie gewohnt hydraulisch … schwebt die 1977 gefertigte Sowjet Seilbahn dem Ausflugshügel von Kutaissi entgegen. Viel zu hoch über dem Fluss gondeln wir in einer roten Kiste, gefertigt von der Flugzeugwerft Tbilisi, als der Generalsekretär der KPDSU noch Leonid Breschnew hiess. Das Knarzen gehört zum Unterhaltungsprogramm und trägt natürlich zu meiner Beruhigung bei. Diese Zeilen schreibt Jörg … Hypochonder, bei allem, was über dem Boden schwebt … Connys Wahrnehmung der Fahrt ist eine andere: Ganz nett! Sie macht sich keine Vorstellung, wie knapp wir wieder einmal mit dem Leben davon gekommen sind 🤓 …

Um das gerade so verarbeitete Erlebnis noch zu toppen, fahren wir mit unserem Jeep ins Hinterland von Kutaissi nach Tschiatura. Zwar liegt die Bergbaustadt in Luftlinie nur knapp 40 Kilometer im Norden, aber die Anfahrt entwickelt sich zu beschwerlichen 100 km über kurvenreiche, auf- und absteigende Nebenstrassen. Landschaftlich wunderbar! Ganz grosses Kino vor der Windschutzscheibe, dafür dann aber ein ständiges Umkurven von tiefen Schlaglöchern und immer wieder verwandelt sich der Asphalt in eine löchrige Schotterpiste. Unterwegs lohnte sich der Stopp an der von einem Eremiten bewohnten steilen Felssäule. Ein Besuch des Einsiedlers wäre allerdings a) beschwerlich, da es eine ewig lange und sehr luftige Stahlleiter zu bezwingen gilt und b) vom Mönch grundsätzlich nicht erwünscht ist … er will seine Ruhe dort oben haben.

Nach Tschiarura fahren wir von einem Hochplateau hinab. Die Stadt wirkt wie unsere sozialistische Wohnstadt Hoyerswerda vor 30 Jahren … nur noch viel bizarrer, da die Hochhäuser wild verteilt die bis zu 300 Meter hohen Berghänge über einem angestauten Fluss hinaufklettern. Die Stadt wäre eine ideale Kulisse für einen dystopischen Endzeitthriller a’la „Blade Runner“. Die Siedlung im kaukasischen Bergland hat eine recht junge Geschichte. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurden in den Bergen hinter Kutaissi reiche Vorkommen an Mangan entdeckt. Mit Beginn der 50ziger Jahre begann die Sowjetunion mit dem industriellen Abbau dieses Rohstoffes. Unmittelbar neben den Minen entstand diese „ideale sozialistische Wohnstadt“ für die Bergarbeiter und deren Familien.

Der Ortskern ist voll von stalinistischem Barock. Die Gebäude haben eine zwar bröckelnde, aber immer noch mit Ornamenten verzierte Fassade. Türmchen krönen die Gebäude und der Kulturpalast hat das Aussehen eines olympischen Tempels. Die Hochhäuser wachsen am Hang grau und abstossend dem Himmel entgegen. Um den Ort mittels öffentlichen Verkehrsmitteln erschliessen zu können und die Menschen zu ihren Arbeitsplätzen und wieder zurück in die Wohnsilos zu transportieren, war der Himmel über Tschiarura noch bis vor kurzer Zeit von den rostigen Seilen von 26 Personenseilbahnen plus Förderanlagen für Bergbau Loren überspannt. Genau diese Anlagen trugen der Stadt den Beinamen „Stadt der schwebenden Särge“ ein, da der Unterhalt der Anlagen mit dem Untergang der Sowjetunion nur noch mehr schlecht als recht erhaltend durchgeführt wurde. Heute stehen wir vor dem Stahlbeton Skelett einer der Talstation der Seilbahnen. Vor uns, 10 Meter von der Station entfernt, schaukelt eine rostige kleine Kabine im Wind.

Alle alten Bahnen wurden still gelegt. Zuletzt wurde der Betrieb der „Stalin Bahn“ und der „Friedensbahn“ im letzten Jahr (2018) eingestellt. Was sehr schade ist: mit beiden wäre ich, Jörg, sehr gerne gefahren. Die Stalin Seilbahn war die älteste Seilbahn der Sowjetunion, anfang der 50ziger Jahre in Betrieb genommen und zumindest die Talstation lässt sich noch im Originalzustand besichtigen. Ein riesiges Bergarbeiter Graffiti schmückt die Wand und wenn ich dem Stahlseil mit dem Blick folge, sehe ich auch hier die Gondel kurz vor der Station über dem Fluss nutzlos hängen. Das Stationsgebäude war früher eine Drehscheibe für mehrere Seilbahnen, wie ein U-Bahn Knotenpunkt in anderen Städten. Aber auch die Friedensbahn, vormals eine der steilsten Seilbahnen der Welt fährt von hier nie wieder los. Die Gondel wäre auch für hartgesottene Seilbahn Fahrer eine Herausforderung gewesen, mehr Förderkorb mit runden, kleinen Bullaugen, als Panoramabahn. Nun blättert nur noch die blaue Farbe von der Gondel.

Aktuell wird eine moderne Seilbahnanlage über der Stadt aufgebaut. Drei Stränge werden hoffentlich bald die Berghänge und die dort lebenden Menschen mit dem Stadtzentrum verbinden. Momentan ist ein Besuch von Freunden auf der anderen Flussseite bestimmt ein zeitraubendes Unterfangen. Eine Stunde mit dem Bus oder Taxi hinab und eine Stunde die kurvenreichen Strassen auf der anderen Seite wieder hinauf. Allerdings las ich, dass bereits seit 2015 an dieser Anlage gebaut wird …

Noch ein schönes Erlebnis dürfen wir teilen. Recht verschwitzt und hungrig von der längeren Fahrt stolperten wir in eines der einfachen Lokale. Die Belegschaft (Köchin, Kellnerin und ein nicht näher einer Berufsgruppe zuordbarer Herr) sassen an einem der Tische, zwei Gäste, ein älterer und ein junger Mann an einem der anderen Tische. Das Ambiente: Bahnhofshalle mit Tischen. Drin ist drin, da gab es kein Zurück mehr für uns, vor allem, da sich die komplette Belegschaft sofort auf uns stürzte. Unser Begehr nach etwas zu trinken und essen konnten wir mit Hilfe des jungen Herrn vom Nachbarttisch (er sprach etwas englisch) vorbringen. Bevor wir allerdings unsere komplette Bestellung aufgeben konnten, hielt uns der ältere Mann eine riesige Portion Kinkali entgegen. Mit Händen und Füssen erklärte er, dass er sie uns schenken möchte. Kinkali sind wunderbar schmeckende Teigtaschen, ähnlich einer grossen Ravioli oder Maultasche, gefüllt mit Fleisch und viel Koriander. Die Teigbeutel werden gekocht und dann ganz vorsichtig, damit sich der heisse Sud aus dem Beutel nicht komplett über Dich verteilt, mit Fingern gefuttert: Am Verschluss festhalten, dann vorsichtig anknabbern, den Sud schlürfen (Achtung: sehr heiss!) und dann langsam Stück für Stück abbeissen und geniessen. … eine Delikatesse und geschenkt bekommen nochmal so lecker.

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